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    Verwaltungsgericht Wien hebt Versammlungsverbot auf und hält PCR-Tests für nicht aussagekräftig

    Interessante Entscheidung aus Österreich: Das Verwaltungsgericht Wien hat sich mit Entscheidung vom 24.03.2021 (GZ: VGW-103/048/3227/2021-2) kurz und bündig auf 12 Seiten zu bestimmten Fragen der österreichischen Corona-Politik geäußert und diese kritisiert.

    In dem Verfahren ging es um ein Versammlungsverbot. Die Behörde hatte insbesondere argumentiert, es sei zu befürchten, dass sich Teilnehmer nicht an das Abstandsgebot und die Maskenpflicht halten würden. Zudem seien die hohen „Fallzahlen“, „Testergebnisse“, das „Fallgeschehen“ sowie die „Anzahl an Infektionen“ maßgeblich für eine Untersagung. Das Gericht räumt auf und sagt, dass ein Durcheinanderwerfen derartiger Begriffe nicht zulässig sei. Vielmehr komme es allein auf die Anzahl der Infektionen / Erkrankten an. Eine tatsächliche Erkrankung könne nur durch einen Arzt festgestellt werden. Allein aufgrund eines PCR-Tests oder eines Antigen-Tests sei eine Corona-Infektion nicht nachgewiesen, da bei derartigen Tests die Fehlerquote zu hoch sei. Hierbei verweist das Gericht auf die WHO. Die Angaben des Gesundheitsdienstes der Stadt Wien und der „Corona-Kommission“ zu den Infektionszahlen seien mithin wertlos.

    Daneben sei es laut Gericht unzulässig, eine Versammlung wegen der Befürchtung von Regelverstößen präventiv zu untersagen. Das kennt man auch aus dem deutschen Verwaltungsrecht.

    Das Gericht führt zudem aus, dass die steigenden Infektionszahlen „nicht zuletzt auf stark steigende Tests zurückzuführen sind“ und dass bezüglich des vorliegenden Verfahrens „zum Seuchengeschehen keine validen und evidenzbasierten Aussagen und Feststellungen vorliegen“ (Seite 10 der Entscheidung).

    Die Versammlungsfreiheit gemäß österreichischem Versammlungsgesetz und Art. 11 Abs. 1 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) können folglich nicht mit solcher Begründung eingeschränkt werden, so das Gericht.

    Es bleibt zu hoffen, dass auch deutsche Verwaltungs- und Verfassungsgerichte zu ähnlichen Erkenntnissen gelangen.

    Florian Gempe
    Rechtsanwalt
    Strafverteidiger

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    Thüringer Verfassungsgerichtshof: Corona-Bußgeldvorschriften nichtig

    Das 149-seitige Urteil des Thüringer Verfassungsgerichtshofes vom 01.03.2021 (Az.: VerfGH 18/20) fand meiner Einschätzung nach in der Presse kaum Anklang. Zwar bezieht sich das Urteil dem Grunde nach auf Verordnungen der Thüringer Landesregierung, welche bereits überholt bzw. außer Kraft sind. Aber die Entscheidung hat es in sich.

    Ein Teil der bisherigen Thüringer Landesverordnungen wird lediglich deshalb für nichtig erklärt, weil das Zitiergebot nach Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG verletzt wurde. Der Verfassungsgerichtshof hält die getroffenen Maßnahmen gleichwohl für verhältnismäßig.

    Ab Seite 140 wird es dann jedoch spannend für den Strafrechtler: Die Bußgeldvorschriften (von denen nur ein Teil überprüft wurde) sind nichtig, da der Verordnungsgeber (Thüringer Landesregierung) hierfür überhaupt nicht zuständig war. Vielmehr ist aufgrund von Art. 103 Abs. 2 GG ausschließlich der parlamentarische Gesetzgeber für den Erlass von Straf- und Bußgeldvorschriften zuständig. Insofern ist auf §§ 73 ff. des Infektionsschutzgesetzes zu verweisen. Dort hat der Bundesgesetzgeber zwar einzelne Bußgeldtatbestände geschaffen, aber nur allgemeiner Natur. Verstöße gegen beispielsweise die Maskenpflicht oder das Abstandsgebot finden sich dort nicht. Die detaillierten Regelungen der Landesverordnungen sind laut Verfassungsgerichtshof indes rechtswidrig und nichtig, sodass – wenn man es auf die Spitze treibt – niemand wegen Verstößen gegen die Landesverordnungen verurteilt werden könnte, solange die Gesetzeslage nicht geändert wird.

    Ob die Amtsgerichte dies ebenso sehen werden, ist allerdings offen.

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    Halbierter Nachtarbeitszuschlag für Schichtarbeit

    Liebe Leser,

    Das Bundesarbeitsgericht (Urteil vom 9. Dezember 2020 – 10 AZR 334/20) entschied, dass eine Regelung in einem Tarifvertrag, nach der sich der Zuschlag für Nachtarbeit halbiert, wenn sie innerhalb eines Schichtsystems geleistet wird, gegen den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG verstoßen kann.

    Die Beklagte betreibt eine Brauerei in Hamburg. Der Kläger leistet dort Schichtarbeit. Nach dem einschlägigen Manteltarifvertrag ist für Arbeit in der Nachtschicht von 22:00 Uhr bis 06:00 Uhr ein Zuschlag von 25 % zum Stundenentgelt zu zahlen. Für Nachtarbeit, die in demselben Zeitraum außerhalb eines Schichtsystems erbracht wird, sieht der Tarifvertrag allerdings einen Zuschlag von 50 % vor. Der Kläger ist der Auffassung, die Halbierung des Zuschlags für Nachtschichtarbeit widerspreche den gesicherten arbeitsmedizinischen Erkenntnissen. Danach gehen von regelmäßiger Nachtschichtarbeit erheblich gravierendere Gesundheitsgefahren aus als von gelegentlich geleisteter Nachtarbeit. Er will, dass die Arbeitgeberin den Zuschlag von 50 % auch für die Nachtschicht zahlen muß.
    Gem. Argumentation der Arbeitgeberin soll der höhere Zuschlag eine besondere Belastung der unvorbereitet zu Nachtarbeit herangezogenen Arbeitnehmer ausgleichen. Sie büßten die Dispositionsmöglichkeit über ihre Freizeit in der Nacht ein.

    Die Vorinstanzen haben die Klage abgewiesen. Die dagegen gerichtete Revision des Klägers hatte vor dem Bundesarbeitsgericht Erfolg. Nachtarbeitnehmer und Nachtschichtarbeitnehmer sind nach Auffassung des Senats miteinander vergleichbar. Nach dem Manteltarifvertrag ist bei der Durchführung von Nachtarbeit außerhalb von Schichtsystemen auf private und kulturelle Wünsche der Beschäftigten weitgehend Rücksicht zu nehmen. Der höhere Zuschlag für Nachtarbeitnehmer kann nicht den Zweck haben, ihre Freizeit vor Eingriffen durch den Arbeitgeber zu schützen. Andere sachliche Gründe, die die schlechtere Behandlung der Nachtschichtarbeitnehmer rechtfertigen könnten, lassen sich dem Manteltarifvertrag nicht entnehmen. Der Kläger kann den höheren Zuschlag verlangen, um mit den nicht regelmäßig nachts Arbeitenden gleichbehandelt zu werden.

     

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    Überstundenprozeß – fehlende oder unkontrollierte Arbeitszeiterfassung

    Liebe Leser,

    im Rahmen einer Vergütungsklage wurde durch das Arbeitsgericht Emden im Urteil vom 24. September 2020 Az. 2 Ca 144/20 festgestellt, dass durch das Urteil des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) vom 14. Mai 2019 die Darlegungslast im Überstundenprozess modifiziert werde.

    Zum Sachverhalt:

    Es ging um die Vergütung von Überstunden in Höhe von über EUR 20.000.

    Bei der Beklagten, einem Unternehmen des Speditions-, Transport- und Logistikgewerbes, galt Vertrauensarbeitszeit. Von der Klägerin wurden mittels einer von der Beklagten zur Verfügung gestellten Software „Kommt“- und „Geht“- sowie „Pausen“-Zeiten, die im Wege eines „Autoabzugs“ im Umfang von einer Stunde täglich verrechnet wurden, erfasst. Nachdem die Klägerin das Arbeitsverhältnis gekündigt hatte, machte sie gegenüber der Beklagten Überstunden im Umfang von rund 1.000 Stunden geltend und legte entsprechende Aufstellungen vor. Die Beklagte wandte hiergegen ein, dass es eine Anweisung zur Leistung von Überstunden nicht gegeben habe. Vielmehr sei es der Klägerin freigestellt gewesen, etwaige Mehrarbeit durch entsprechende selbstgenommene Ausgleichszeiten auszugleichen.
    Eine Anordnung, Duldung oder Billigung etwaiger Überstunden habe es nicht gegeben. Im Gegenteil: Nach ihrer Kündigung sei der Klägerin sogar mitgeteilt worden, dass Überstunden zu vermeiden seien. Insofern könnten etwaige Überstunden, die nach dem Ausspruch der Kündigung entstanden seien, ohnehin nicht mehr berücksichtigt werden.

    Entscheidung des Arbeitsgerichts Emden:

    Das Gericht gab der Klage überwiegend statt.
    Die Klägerin habe auf der ersten Stufe ihrer Darlegung der Vortragslast genügt, indem sie unter Vorlage von Ausdrucken aus dem bei der Beklagten installierten Zeiterfassungssystem bzw. einer Auflistung der jeweils monatlich erbrachten Arbeitsleistung vorgetragen habe, an welchen Tagen sie von wann bis wann Arbeit geleistet habe. Diesem Vortrag sei die Beklagte nicht hinreichend entgegengetreten, sodass der Sachverhalt gemäß § 138 Abs. 3 ZPO als zugestanden anzusehen sei.

    Auch auf der zweiten Stufe sei die Klägerin ihrer Darlegungslast nachgekommen. Danach habe die Beklagte die von der Klägerin geleisteten Überstunden jedenfalls „geduldet“. Die Beklagte habe die von der Klägerin behauptete arbeitgeberseitige „Veranlassung“ etwaiger von der Klägerin erbrachter Überstunden, insbesondere deren Anordnung, Duldung oder Billigung, zwar bestritten. Sie hatte insoweit u.a. vorgetragen, dass die Arbeitszeiten der Klägerin zwar aufgezeichnet, jedoch nicht kontrolliert worden seien. Vielmehr hätte die Klägerin selbst auf die Einhaltung ihrer Arbeitszeit achten sollen. Dieses Bestreiten sei jedoch – so das Arbeitsgericht Emden – nicht hinreichend, da aufgrund der Entscheidung des EuGH vom 14. Mai 2019, C-55/18 die Darlegungslast im Überstundenprozess modifiziert sei.

    Problematisch: Die vom Bundesarbeitsgericht bislang geforderte positive Kenntnis als Voraussetzung für eine Duldung der Leistung etwaiger Überstunden und damit für eine Zurechenbarkeit bzw. arbeitgeberseitige Veranlassung sei nicht erforderlich, wenn sich der Arbeitgeber die Kenntnis der Arbeitszeiten des Arbeitnehmers – wie vorliegend – durch Einsichtnahme in die Arbeitszeiterfassung, zu deren Einführung und (!) Kontrolle der Arbeitgeber verpflichtet sei, hätte verschaffen können, ihm also eine Kenntnisnahme möglich gewesen sei.

    Zur Begründung führt das Arbeitsgericht Emden aus, dass nach den Grundsätzen der EuGH-Entscheidung vom 14.05.2019, C-55/18 die mit der Auslegung des nationalen Rechts betrauten Gerichte verpflichtet seien, sämtliche nationale Rechtsnormen soweit wie möglich am Wortlaut und Zweck der Arbeitszeitrichtlinie 2003/88/EG auszurichten, insbesondere die hier in Betracht kommenden §§ 241 Abs. 2, 242, 315, 618 Abs. 1 BGB. Bei einer europarechtskonformen Auslegung folge aus § 618 Abs. 1 BGB eine arbeitgeberseitige Verpflichtung zur Messung, Aufzeichnung und Kontrolle der Arbeitszeiten der Arbeitnehmer. Die aus Art. 31 Abs. 2 der Grundrechtecharta i.V.m. der Richtlinie 2003/88/EG folgende Verpflichtung des Arbeitgebers zur Einrichtung eines objektiven, verlässlichen und zugänglichen Systems zur Arbeitszeiterfassung sei zudem – jedenfalls hilfsweise – als vertragliche Nebenpflicht im Sinne des § 241 Abs. 2 BGB zu klassifizieren, nach dem die Arbeitsvertragsparteien zur Rücksichtnahme auf die Rechte, Rechtsgüter und Interessen des jeweils anderen Vertragsteils verpflichtet seien. Eine Verpflichtung zur europarechts- bzw. richtlinienkonformen Auslegung der genannten Vorschriften des nationalen Arbeitsrechts bestehe unabhängig davon, ob möglicherweise – zusätzlich – eine Pflicht des deutschen Gesetzgebers bestehe, Änderungen der gesetzlichen Vorschriften der §§ 16 Abs. 2 ArbZG, 21 a Abs. 7 ArbZG, 17 MiLoG etc. infolge der CCOO-Entscheidung vom 14. Mai 2019 vorzunehmen.

    Ob andere Gerichte der vom Arbeitsgericht Emden (soweit ersichtlich erstmalig in Deutschland)  vorgenommenen Modifizierung der Darlegungs- und Beweislast folgen, ist fraglich.
    Schon jetzt sollten sich die Arbeitsvertragsparteien allerdings intensiv mit der Arbeitszeiterfassung, deren Kontrolle und wirksamen Ausschlußfristen befassen.

    Bei Rückfragen stehe ich Ihnen jederzeit zur Verfügung.

    Ihr

    Rudolf Hahn

    Rechtsanwalt, Fachanwalt für Arbeitsrecht, Fachanwalt für Transport- und Speditionsrecht