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Überstundenprozeß – fehlende oder unkontrollierte Arbeitszeiterfassung

Liebe Leser,

im Rahmen einer Vergütungsklage wurde durch das Arbeitsgericht Emden im Urteil vom 24. September 2020 Az. 2 Ca 144/20 festgestellt, dass durch das Urteil des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) vom 14. Mai 2019 die Darlegungslast im Überstundenprozess modifiziert werde.

Zum Sachverhalt:

Es ging um die Vergütung von Überstunden in Höhe von über EUR 20.000.

Bei der Beklagten, einem Unternehmen des Speditions-, Transport- und Logistikgewerbes, galt Vertrauensarbeitszeit. Von der Klägerin wurden mittels einer von der Beklagten zur Verfügung gestellten Software „Kommt“- und „Geht“- sowie „Pausen“-Zeiten, die im Wege eines „Autoabzugs“ im Umfang von einer Stunde täglich verrechnet wurden, erfasst. Nachdem die Klägerin das Arbeitsverhältnis gekündigt hatte, machte sie gegenüber der Beklagten Überstunden im Umfang von rund 1.000 Stunden geltend und legte entsprechende Aufstellungen vor. Die Beklagte wandte hiergegen ein, dass es eine Anweisung zur Leistung von Überstunden nicht gegeben habe. Vielmehr sei es der Klägerin freigestellt gewesen, etwaige Mehrarbeit durch entsprechende selbstgenommene Ausgleichszeiten auszugleichen.
Eine Anordnung, Duldung oder Billigung etwaiger Überstunden habe es nicht gegeben. Im Gegenteil: Nach ihrer Kündigung sei der Klägerin sogar mitgeteilt worden, dass Überstunden zu vermeiden seien. Insofern könnten etwaige Überstunden, die nach dem Ausspruch der Kündigung entstanden seien, ohnehin nicht mehr berücksichtigt werden.

Entscheidung des Arbeitsgerichts Emden:

Das Gericht gab der Klage überwiegend statt.
Die Klägerin habe auf der ersten Stufe ihrer Darlegung der Vortragslast genügt, indem sie unter Vorlage von Ausdrucken aus dem bei der Beklagten installierten Zeiterfassungssystem bzw. einer Auflistung der jeweils monatlich erbrachten Arbeitsleistung vorgetragen habe, an welchen Tagen sie von wann bis wann Arbeit geleistet habe. Diesem Vortrag sei die Beklagte nicht hinreichend entgegengetreten, sodass der Sachverhalt gemäß § 138 Abs. 3 ZPO als zugestanden anzusehen sei.

Auch auf der zweiten Stufe sei die Klägerin ihrer Darlegungslast nachgekommen. Danach habe die Beklagte die von der Klägerin geleisteten Überstunden jedenfalls „geduldet“. Die Beklagte habe die von der Klägerin behauptete arbeitgeberseitige „Veranlassung“ etwaiger von der Klägerin erbrachter Überstunden, insbesondere deren Anordnung, Duldung oder Billigung, zwar bestritten. Sie hatte insoweit u.a. vorgetragen, dass die Arbeitszeiten der Klägerin zwar aufgezeichnet, jedoch nicht kontrolliert worden seien. Vielmehr hätte die Klägerin selbst auf die Einhaltung ihrer Arbeitszeit achten sollen. Dieses Bestreiten sei jedoch – so das Arbeitsgericht Emden – nicht hinreichend, da aufgrund der Entscheidung des EuGH vom 14. Mai 2019, C-55/18 die Darlegungslast im Überstundenprozess modifiziert sei.

Problematisch: Die vom Bundesarbeitsgericht bislang geforderte positive Kenntnis als Voraussetzung für eine Duldung der Leistung etwaiger Überstunden und damit für eine Zurechenbarkeit bzw. arbeitgeberseitige Veranlassung sei nicht erforderlich, wenn sich der Arbeitgeber die Kenntnis der Arbeitszeiten des Arbeitnehmers – wie vorliegend – durch Einsichtnahme in die Arbeitszeiterfassung, zu deren Einführung und (!) Kontrolle der Arbeitgeber verpflichtet sei, hätte verschaffen können, ihm also eine Kenntnisnahme möglich gewesen sei.

Zur Begründung führt das Arbeitsgericht Emden aus, dass nach den Grundsätzen der EuGH-Entscheidung vom 14.05.2019, C-55/18 die mit der Auslegung des nationalen Rechts betrauten Gerichte verpflichtet seien, sämtliche nationale Rechtsnormen soweit wie möglich am Wortlaut und Zweck der Arbeitszeitrichtlinie 2003/88/EG auszurichten, insbesondere die hier in Betracht kommenden §§ 241 Abs. 2, 242, 315, 618 Abs. 1 BGB. Bei einer europarechtskonformen Auslegung folge aus § 618 Abs. 1 BGB eine arbeitgeberseitige Verpflichtung zur Messung, Aufzeichnung und Kontrolle der Arbeitszeiten der Arbeitnehmer. Die aus Art. 31 Abs. 2 der Grundrechtecharta i.V.m. der Richtlinie 2003/88/EG folgende Verpflichtung des Arbeitgebers zur Einrichtung eines objektiven, verlässlichen und zugänglichen Systems zur Arbeitszeiterfassung sei zudem – jedenfalls hilfsweise – als vertragliche Nebenpflicht im Sinne des § 241 Abs. 2 BGB zu klassifizieren, nach dem die Arbeitsvertragsparteien zur Rücksichtnahme auf die Rechte, Rechtsgüter und Interessen des jeweils anderen Vertragsteils verpflichtet seien. Eine Verpflichtung zur europarechts- bzw. richtlinienkonformen Auslegung der genannten Vorschriften des nationalen Arbeitsrechts bestehe unabhängig davon, ob möglicherweise – zusätzlich – eine Pflicht des deutschen Gesetzgebers bestehe, Änderungen der gesetzlichen Vorschriften der §§ 16 Abs. 2 ArbZG, 21 a Abs. 7 ArbZG, 17 MiLoG etc. infolge der CCOO-Entscheidung vom 14. Mai 2019 vorzunehmen.

Ob andere Gerichte der vom Arbeitsgericht Emden (soweit ersichtlich erstmalig in Deutschland)  vorgenommenen Modifizierung der Darlegungs- und Beweislast folgen, ist fraglich.
Schon jetzt sollten sich die Arbeitsvertragsparteien allerdings intensiv mit der Arbeitszeiterfassung, deren Kontrolle und wirksamen Ausschlußfristen befassen.

Bei Rückfragen stehe ich Ihnen jederzeit zur Verfügung.

Ihr

Rudolf Hahn

Rechtsanwalt, Fachanwalt für Arbeitsrecht, Fachanwalt für Transport- und Speditionsrecht