Sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz – manchmal eine Gratwanderung

02.07.2024  |  

Autor: Dr. Rudolf Hahn, PhD.

Das Arbeitsverhältnis ist Leben, es wird gelebt. Diese Aussage findet sich in vielerlei Rechtsprechung, wenn es um Absprachen und Regelungen zwischen den Arbeitsvertragsparteien geht, die nicht schriftlich fixiert sind bzw. selbst wenn schriftlich fixiert, mitunter der Auslegung bedürfen.

Häufig stellt sich die Frage, wie das Arbeitsverhältnis denn zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer und auch den Arbeitnehmern untereinander gehandhabt und gelebt wurde. Gerade bei dem Verhalten des Arbeitgebers oder des Vorgesetzten zum „untergebenen“ Arbeitnehmer oder von Arbeitskollegen untereinander kann es hierauf ankommen.

Äußerungen oder Verhaltensweisen des Vorgesetzten oder Kollegen gegenüber dem Arbeitnehmer können durchaus die Grenze zum erlaubten überschreiten. Dann muss stets im Einzelfall geprüft werden, ob diese Äußerung oder das entsprechende Verhalten eine unzulässige sexuelle Belästigung, eine Belästigung oder eine sonstige Verhaltensweise war. Aber was ist eigentlich eine sexuelle Belästigung? Hier hilft eine Definition weiter.

1. Definitionen

In § 3 Abs. 4 des AGG (Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz) ist folgendes normiert:

„(4) Eine sexuelle Belästigung ist eine Benachteiligung in Bezug auf § 2 Abs. 1 Nr. 1 bis 4, wenn ein unerwünschtes, sexuell bestimmtes Verhalten, wozu auch unerwünschte sexuelle Handlungen und Aufforderungen zu diesen, sexuell bestimmte körperliche Berührungen, Bemerkungen sexuellen Inhalts sowie unerwünschtes Zeigen und sichtbares Anbringen von pornographischen Darstellungen gehören, bezweckt oder bewirkt, dass die Würde der betreffenden Person verletzt wird, insbesondere wenn ein von Einschüchterungen, Anfeindungen, Erniedrigungen, Entwürdigungen oder Beleidigungen gekennzeichnetes Umfeld geschaffen wird.“

Die Definition für Belästigung lautet gem. § 3 Abs. 3 AGG:

„(3) Eine Belästigung ist eine Benachteiligung, wenn unerwünschte Verhaltensweisen, die mit einem in § 1 genannten Grund in Zusammenhang stehen, bezwecken oder bewirken, dass die Würde der betreffenden Person verletzt und ein von Einschüchterungen, Anfeindungen, Erniedrigungen, Entwürdigungen oder Beleidigungen gekennzeichnetes Umfeld geschaffen wird.“

2. Veranschaulichung

Natürlich muss jede Definition anhand von Beispielen veranschaulicht werden.

Sicherlich ist nicht jede Berührung oder Bemerkung des Arbeitnehmers durch einen Kollegen oder Vorgesetzten nicht gleich als „bestimmte körperliche Berührung “ oder „Bemerkung sexuellen Inhalts“ anzusehen.

Auch darf man nicht vergessen, dass es zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber durchaus zu völlig legitimen Flirts kommen kann, zumal die Personen viel Zeit miteinander verbringen.

Die Abgrenzung zwischen Flirt, unangenehmen Annäherungsversuchen und sexueller Belästigung kann daher schwer sein.

Zu beachten ist, dass die Verhaltensweisen dem betroffenen Arbeitnehmer auch unerwünscht (Hervorhebung durch den Verfasser) sein müssen.

Dass das Verhalten unerwünscht ist, muss nicht ausdrücklich geäußert werden, sondern kann sich auch aus objektiven Anhaltspunkten ergeben. Grundsätzlich kann meist davon ausgegangen werden, dass einem Arbeitnehmer sexuelle Annäherungen am Arbeitsplatz unerwünscht sind.

Allerdings kann auch gerade in diesem Punkt die Sichtweise der beteiligten Personen auseinander gehen, so dass es wieder auf die Einzelumstände ankommt.

Das Verhalten muss auch die Würde des betroffenen Arbeitnehmers verletzen, also bei Einschüchterungen, Anfeindungen, Beleidigungen, etc.

Ein wiederholtes Verhalten ist nicht immer erforderlich, z. B. wenn ein gravierender Übergriff vorliegt.

So im vom Bundesarbeitsgericht im Jahre 2016 entschiedenen Fall, Az. 2 AZR 302/16. Der Arbeitskollege griff den Arbeitskollegen von hinten schmerzhaft in den Genitalbereich und machte anschließend Bemerkungen über ihn. Dies stellte einen wichtigen Kündigungsgrund im Sinne von § 626 BGB (Bürgerliches Gesetzbuch) dar.

Aufgrund der Berührung des Intimbereichs handelte es sich um ein besonders schwerwiegendes Verhalten und einen tätlichen Übergriff. Außerdem gab es anschließend noch sexuelle Bemerkungen. Es lagen daher 2 sexuelle Belästigungen vor. Der Arbeitgeber hatte ein erhebliches Interesse daran, dass die Zusammenarbeit unter den Arbeitskollegen nicht durch solche Übergriffe gestört wurde.

Bei dem vom Landesarbeitsgericht Köln entschiedenen Fall vom 03.03.2023, Az. 6 Sa 385/21 ging es um massive wiederholte Belästigungen am Arbeitsplatz. Es lagen körperliche Übergriffe vor wie Kneifen in die Seite, Pieksen in den Schwangerschaftsbauch, Werfen von Papierschnipseln in den Ausschnitt einer Arbeitskollegin. Außerdem ging es um wiederholte verbale Übergriffe, z. B. wiederholte Bemerkungen wie

„Frau X hat so einen prallen Hintern, der lädt zum Draufklatschen ein.“ oder „ Frau X ist ja eine hübsche Frau, aber ungeschminkt möchte ich nicht neben ihr aufwachen“. oder „Wenn ich Sie in der Hose sehe, dann juckt es mich in der Hand“.

Hinzukam, dass der Arbeitnehmer regelmäßig Sprüche über große Brüste  von sich gab, jedes Kleidungsstück, jede Figur und jede Frisur kommentierte.

Es dürfte auf der Hand liegen, dass derartige Verhaltungsweisen nicht akzeptabel und tolerierbar sind. Trotzdem bedurfte es einer umfangreichen Beweisaufnahme, da es um ein seit über 35 Jahren bestehendes Arbeitsverhältnis ging, was die Arbeitgeberin, eine Stadt fristlos gekündigt hatte.

3. Hinweise zur Prüfung eines Sachverhaltes

Bei der Prüfung eines streitgegenständlichen Sachverhalts ist folgendes zu würdigen:

Eine außerordentliche (fristlose) Kündigung ist nur möglich, wenn das Verhalten an sich sowie auch im Einzelfall unter Berücksichtigung aller Umstände einen wichtigen Grund darstellt. Auch die Interessenabwägung muss zu Lasten des zu kündigenden Arbeitnehmers ausfallen. Eine wirksame außerordentliche Kündigung setzt voraus, dass das Vertrauensverhältnis zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer durch das Verhalten nachhaltig so gestört ist, dass die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses für den Arbeitgeber auch nur bis zum Ablauf der Kündigungsfrist unzumutbar ist.

Der Arbeitgeber hat die zweiwöchige Kündigungserklärungsfrist zu beachten, die mit Kenntnis des der Kündigung zugrunde liegenden Sachverhalts beginnt. Dabei sind etwaige Verzögerungen einzukalkulieren, die durch Anhörungen von Gremien entstehen können. Der Arbeitgeber darf aber durchaus ermitteln und das auch länger als zwei Wochen, wenn dies zur Aufklärung des Sachverhalts erforderlich ist. Das konkrete Vorgehen sollte zeitlich festgehalten werden zu Zwecken der Dokumentation.

Eine Tatkündigung kommt in Betracht, wenn nach der Überzeugung des Arbeitgebers feststeht, dass das strafbare Verhalten bzw. die schwerwiegende Pflichtverletzung durch den belästigenden Arbeitnehmer tatsächlich stattgefunden hat.

Ist sich der Arbeitgeber allerdings nicht vollständig sicher, dass eine sexuelle Belästigung stattgefunden hat, kann auch eine Verdachtskündigung in Betracht kommen. Hier liegt der Kündigungsgrund im dringenden Verdacht der Begehung einer Straftat oder einer schwerwiegenden Pflichtverletzung. Für die Wirksamkeit einer Verdachtskündigung ist die vorherige Anhörung des zu kündigenden Mitarbeitenden zu dem Verdacht zwingend erforderlich. Der Arbeitgeber muss nämlich alle zumutbaren Anstrengungen zur Aufklärung des Sachverhalts unternehmen.

Dabei ist zu beachten, dass bei einer Tat und einer Verdachtskündigung unterschiedliche Kündigungsgründe vorliegen, sodass etwaige Anhörungs- und Zustimmungserfordernisse (Stichwort Betriebsrat) für den jeweiligen Grund – ggf. für beide Gründe – erfüllt werden müssen.

4. Fazit

Nicht jede sexuelle Belästigung dürfte im arbeitsrechtlichen Sinne als zu ahndende Handlung oder Erklärung auszulegen sein. Zunächst muss die Handlung oder Äußerung als solche als Belästigung und bejahendenfalls als sexuelle Belästigung ausgelegt werden. Natürlich wird sich auch stets die Frage stellen, ob der Arbeitgeber nicht zunächst eine Abmahnung aussprechen hätte müssen. Und schließlich sind auch stets die formellen Aspekte wie ordnungsgemäße Betriebsratsanhörung und Einhaltung der Kündigungserklärungsfrist zu prüfen. Wie so häufig im Arbeitsrecht wird es letztlich auf die Einzelumstände ankommen.

P.S.: Sofern Anmerkungen zu Verhaltensweisen von Arbeitnehmern gemacht werden, handelt es sich rein um die persönlichen Auffassungen des Unterzeichners. Zur besseren Lesbarkeit wird auf die gleichzeitige Verwendung der Sprachformen männlich, weiblich und divers verzichtet. Sämtliche Personenbezeichnungen gelten gleichermaßen für alle Geschlechter.

Dr. Rudolf Hahn, PhD.

Rechtsanwalt Wirtschaftsjurist

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