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    Nettolohn – Schlüssige Darlegung

    Liebe Leser,

     

    es kommt in der Praxis ab und zu vor, dass der Mandant erklärt, es wurde eine Nettolohnvereinbarung abgeschlossen.

    Ob dies dann tatsächlich auch einer rechtlichen Überprüfung standhält, bedarf der Prüfung im Einzelfall.

    Das Bundesarbeitsgericht hatte sich mit dieser Problematik in der Entscheidung vom 23.09.2020, Az. 5 AZR 251/19

    ausführlich auseinandergesetzt. In der Zeitschrift Der Betrieb 2021, 908 habe ich diese Entscheidung zusammengefasst

    und kurz (incl. Praxishinweisen) kommentiert. Im Ergebnis ist grundsätzlich von einer Bruttolohnvergütung auszugehen,

    es sei denn die Nettolohnvereinbarung ist unmissverständlich und zweifelsfrei.

    Viel Spaß beim lesen

    Ihr

    Rudolf Hahn

    Rechtsanwalt

    Fachanwalt für Arbeitsrecht

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    Verwaltungsgericht Weimar vs. Amtsgericht Weimar

    Wer austeilt, muss auch einstecken können.

    Mit einem haarsträubenden Beschluss vom 20.04.2021 (Az.: 8 E 416/21 We) hat das Verwaltungsgericht Weimar über die Maskenpflicht an Schulen entschieden und das Amtsgericht Weimar heftig kritisiert. Letzteres hatte die Maskenpflicht u.a. für verfassungswidrig erklärt und an zwei Schulen ausgesetzt. Hier folgt nun die staatlich verordnete Gegenmeinung.

    Das Verwaltungsgericht Weimar geht in dem Eilbeschluss formell zwar auf alle relevanten Punkte ein, argumentiert aber rein auf der Linie der veröffentlichten Meinung. Das Gericht schreibt ausdrücklich, dass es sich der “wohlbegründeten Mehrheitsmeinung” anschließt. Die Gründe spielen dabei jedoch eine untergeordnete Rolle. Das Robert-Koch-Institut (RKI) sei staatlich dafür eingesetzt worden, die richtigen Meinungen zu finden, daher müssten diese Meinungen auch richtig sein. Mit der wissenschaftlichen Kritik an den einzelnen Auffassungen des RKI setzt sich das Gericht nicht auseinander, sondern weist diese als “Mindermeinungen” zurück.

    Zunächst fällt die ungewöhnliche Kritik an der Entscheidung des Amtsgerichts Weimar auf. Das Verwaltungsgericht ist der festen Überzeugung, dass es der “Platzhirsch” sei und allein über schulische Belange zu entscheiden habe. Es möchte sich von keinem anderen hier hereinreden lassen. Die Entscheidung des Amtsgerichts Weimar sei allein schon wegen fehlender Zuständigkeit “offensichtlich rechtswidrig” und ein “ausbrechender Rechtsakt”. Diese Wortwahl ist in der Rechtsprechung gelinde gesagt unüblich, da erstens das Verwaltungsgericht nicht über die Richtigkeit von Enscheidungen aus einer anderen Gerichtsbarkeit zu entscheiden hat und zweitens eine gerichtliche Entscheidung mit Anordnung der sofortigen Wirksamkeit – egal, ob falsch oder richtig – zunächst einmal wirksam und bindend ist und von allen Beteiligten einzuhalten ist, bis sie von einer höheren Instanz ggf. aufgehoben wird. Das hat etwas mit Gewaltenteilung und Rechtsstaatsprinzip zu tun.

    Inhaltlich kann man sich sicherlich streiten, ob dem Familiengericht (wie es vom Amtsgericht gesehen wurde) eine Kompetenz nach § 1666 BGB zukommt, gegenüber der Schule als “Dritten” eine Anordnung zum Schutz des Kindeswohles zu treffen. Die vom Verwaltungsgericht zitierte Fundstelle bezieht sich darauf, dass “Dritter” i.S.d. Vorschrift nur eine Privatperson, kein Träger öffentlicher Gewalt sein könne. Das überzeugt nur teilweise. Die Anordnung des Amtsgerichts Weimar erging gegenüber den Schulleitern und Lehrern. Diese sind auch Privatpersonen und können als solche auch das Kindeswohl beeinträchtigen. Wie würde es aussehen, wenn ein Lehrer einen Schüler bspw. schlägt oder missbraucht? Wäre eine Anordnung des Familiengerichts dann ebenfalls unzulässig, weil es sich um einen Träger öffentlicher Gewalt handelt? Gleiches gilt für die Anordnung des Maskentragens. Es ist sicherlich eine Frage, über die man rechtlich diskutieren kann. Warum das Amtsgericht Weimar aber hier offensichtlichen Rechtsbruch begangen haben soll, erklärt das Verwaltungsgericht Weimar nicht, außer dass es sich in seinem Herrschaftsterritorium verletzt sieht.

    Laut Verwaltungsgericht Weimar sei die Maskenpflicht für Schüler, auch Grundschüler, geeignet, erforderlich und angemessen. Grund sei ein aktuell “besonders hohes Infektionsgeschehen”, welches sich aus der 7-Tage-Inzidenz von 246,3 in Thüringen ergebe. Zur Frage, ob diese Zahl überhaupt in irgendeiner Weise aussagekräftig ist, äußert sich das Gericht nicht. Es liegt indes auf der Hand, dass der Inzidenzwert maßgeblich von der Anzahl der durchgeführten Tests abhängig ist, da nur die positiven, nicht jedoch die negativen Ergebnisse gezählt werden. Damit ist der Wert beliebig manipulierbar. Eine Halbierung der Tests würde etwa zu einer Halbierung der Inzidenz führen, eine Vervierfachung der Tests würde etwa zu einer Vervierfachung der Inzidenz führen, insbesondere solange auch Personen/Kinder ohne Symptome getestet werden. Dabei ist auffällig, dass an immer mehr Stellen Testpflichten eingeführt werden und die Testanzahl immer weiter steigt. Von der Fehlerquote der verschiedenen Tests ganz abgesehen. Diese Fakten sind hinlänglich bekannt, wurden zuletzt selbst im Bundestag eingebracht, werden aber vom Verwaltungsgericht Weimar völlig ignoriert.

    Die Eignung des Maskentragens zur Eindämmung der Pandemie ergebe sich aus einer Stellungnahme des RKI, in der es heißt, dass das Tragen einer Maske im unmittelbaren Umfeld einer Person das Risiko einer Infektion verringern KANN. Kritik an derartigen vagen Äußerungen und die wissenschaftlichen Nachweise, dass derartige Spekulationen nicht auf wissenschaftlichen Fakten beruhen (Gutachten im Beschluss des Amtsgerichts), interessieren das Verwaltungsgericht nicht. Es seien einfach Mindermeinungen.

    Das Amtsgericht habe die Gutachter bewusst danach ausgewählt, dass diese zu einem bestimmten Ergebnis gelangen würden. Das Verwaltungsgericht bezeichnet die Gutachter, allesamt Professoren, sogar über einen Link als Coronaleugner. Zu deren über 140-seitiger Argumentation verliert es hingegen kein Wort.

    Laut Verwaltungsgericht Weimar habe das Maskentragen keinerlei gesundheitliche Nachteile für die Kinder. Es könne derartiges anhand der ausgewählten (!) Quellen nicht erkennen. Abgesehen von ein paar psychischen Reaktionen, die nicht so schlimm seien. Diese könnten damit umgangen werden können, dass sich die Eltern auch positiv zu Masken äußern und es den Kindern einreden können, dass das Maskentragen etwas Schönes sei. (Ohne Witz, Seite 13 der Entscheidung.)

    Den Gutachten aus dem Beschluss des Amtsgerichts Weimar konnten u.a. folgende körperliche Beeinträchtigungen bei Kindern entnommen werden:

    Kopfschmerzen, Konzentrationsschwierigkeiten, Unwohlsein, Beeinträchtigung beim Lernen, Benommenheit/Müdigkeit, Engegefühl unter der Maske, Gefühl der Atemnot, Schwindel, Trockener Hals, Kraftlosigkeit, Bewegungsunlust, Spielunlust, Jucken in der Nase, Übelkeit, Schwächegefühl, Bauchschmerzen, Beschleunigte Atmung, Krankheitsgefühl, Engegefühl im Brustkorb, Augenflimmern, Appetitlosigkeit, Herzrasen, Herzstolpern, Herzstiche, Rauschen in den Ohren, Kurzzeitige Bewusstseinsbeeinträchtigung/Ohnmachtsanfälle, Erbrechen, verschlechterte Haut, v. a. vermehrte Pickel, Ausschläge und allergische Erscheinungen um den Mundbereich bis hin zu Pilzerkrankungen in und um den Mund, Nasenbluten, Schulunlust bis hin zu Schulangst/Schulverweigerung, vermehrtes Schwitzen, Druckstellen und Wunden hinter den Ohren, wunde oder rissige und z. T. blutigen Lippen, gesteigerte Migräneanfällen in Frequenz und Ausprägungsgrad, Beeinträchtigungen des Sehens.

    Die Gutachten bennenen die Statistiken mit entsprechenden Fall- und Prozentzahlen. Viele der genannten Symptome wird jeder Normalbürger aus der eigenen Erfahrung bestätigen können, mit dem naheliegenden Schluss, dass Kinder noch viel stärker darunter leiden als Erwachsene. Für das Verwaltungsgericht ist das alles nichts. Es handele sich nur um unbeachtliche Einzelmeinungen. Die ausgewählten Quellen sagen: Maskentragen ist unschädlich.

    Völlig ignoriert wird vom Verwaltungsgericht auch das Problem, dass das Maskentragen insbesondere bei Kindern die Infektionszahlen eher steigern als senken könnte, da kaum ein Kind in der Lage ist, eine Mund-Nasen-Bedeckung / FFP2-Maske / medizinische Gesichtsmaske korrekt zu tragen, wozu vor allem gehört, dass die Maske während des (stundenlangen) Tragens nicht berührt werden darf. Wie bereits Erwachsene es tun, fassen Kinder noch häufiger an die Maske. Da die Maske entweder von innen oder von außen regelmäßig kontaminiert ist, ist anzunehmen, dass hierdurch die Infektionen (insbesondere Kontakt-Infektionen) steigen. Das ist jedenfalls nicht weniger plausibel als die Theorie des RKI. Im Beschluss des Amtsgerichts bzw. den darin enthaltenen Gutachten wird dieses Problem diskutiert. Für das Verwaltungsgericht ist das unerheblich.

    Interessanterweise erwähnt das Verwaltungsgericht, dass die Pausenregelung in den Verordnungen, also dass den Schülern zwischendurch immer mal eine Pause ohne Maske gewährt werden muss (mit großem Sicherheitsabstand, versteht sich), besonders wichtig sei. “Diese Pausenregelung ist in jedem Fall erforderlich, da Kinder nicht durch altersabhängig überlange Tragezeiten überfordert werden dürfen” (Seite 15). Der naheliegende Schluss, dass die Kinder bereits dadurch überfordert sein könnten, dass sie den ganzen Schultag (also 6-8 Stunden mit einigen Pausen) eine Maske tragen müssen, während gleichzeitig viele Richter im Gerichtssaal von der Maskenpflicht absehen, da eine viertelstündige Verhandlung mit Maske zu anstrengend sei, drängt sich für das Verwaltungsgericht nicht auf.

    In juristisch korrekter Folgerichtigkeit kommt das Verwaltungsgericht Weimar zu dem Ergebnis, dass das Maskentragen aufgrund seiner besonderen Eignung, das Pandemiegeschehen erheblich einzuschränken (wie wir es seit einem Jahr erleben), dem Fehlen anderer gleich geeigneter Maßnahmen und der völligen Ungefährlichkeit und Unschädlichkeit für Kinder selbstverständlich vollkommen verhältnismäßig ist. Meiner Meinung nach ist das beste Regierungspropaganda, keine juristische Kontrolle der Verwaltung, findet

    Ihr

    Florian Gempe
    Rechtsanwalt
    Strafverteidiger

    P.S.: Kürzlich ist eine wissenschaftliche Studie zum Maskentragen erschienen, die im Wesentlichen zu dem Ergebnis kommt, dass Maskentragen nichts bringt, sondern nur schadet. Für regierungstreue Gerichte sicher nur eine Einzelmeinung, für die Interessierten jedoch:

    Kisielinski, K.; Giboni, P.; Prescher, A.; Klosterhalfen, B.; Graessel, D.; Funken, S.; Kempski, O.; Hirsch, O. Is a Mask That Covers the Mouth and Nose Free from Undesirable Side Effects in Everyday Use and Free of Potential Hazards?. Int. J. Environ. Res. Public Health 2021, 18, 4344. https://doi.org/10.3390/ijerph18084344

     

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    Amtsgericht Weimar: Beschluss vom 08.04.2021 analysiert, Maskenpflicht und Testzwang in Schulen verfassungswidrig, PCR-Tests und Schnelltests ungeeignet

    Das Amtsgericht Weimar hat erneut eine aufsehenerregende Entscheidung getroffen, die in den Massenmedien heftig kritisiert wird (Amtsgericht Weimar, Beschluss vom 08.04.2021, Az.: 9 F 148/21). Man sollte sich die 178 Seiten allerdings auch tatsächlich zu Gemüte führen, bevor man sich hierüber auslässt.

    In der Sache geht es darum, dass das Familiengericht den Leitungen und Lehrern einer Grundschule und einer Regelschule in Weimar untersagt, den Schülern das Tragen von Mund-Nasen-Bedeckungen, das Einhalten von Mindestabständen und die Durchführung von Schnelltests vorzuschreiben. Diese Maßnahmen stellten eine Gefährdung des gesundheitlichen und psychischen Wohls der Kinder dar.

    Die Entscheidung beginnt mit einer Darstellung des Sach- und Streitstandes. Diesem ist zu entnehmen, dass die betroffenen Kinder unter dem ganztägigen Maskentragen körperlich und geistig gelitten hätten – von Kopfschmerzen bis hin zum Erbrechen – und teilweise mit einem ärztlichen Attest zur Maskenbefreiung  von den Lehrern diskriminiert worden seien, indem sie sich von den anderen Schülern entfernen mussten und nur noch mit “Du ohne Maske” angeredet worden seien. Es werden viele weitere unhaltbare Zustände beschrieben, welche sich aufgrund der Maskenpflicht ergeben hätten. Dass das Familiengericht eine Kindeswohlgefährdung ernsthaft prüfen muss, übersehen viele.

    Vom Aufbau her unüblich, für die öffentliche Debatte aber wertvoll, zitiert das Amtsgericht in der Entscheidung die 3 eingeholten Sachverständigengutachten komplett mit über 140 Seiten. Diese sind zwar nicht in jeder Zeile vollkommen, aber aus meiner Sicht im Wesentlichen doch überzeugend. Sehr ausführlich setzen sie sich mit den Empfehlungen und Argumenten des Robert-Koch-Instituts auseinander und kommen zu dem Ergebnis, dass die Maskenpflicht insbesondere bei Kindern ebensowenig geeignet ist, das Infektionsrisiko zu senken, wie das Herstellen von Mindestabständen von 1,5 m. Im Gegenteil: Durch ständiges Anfassen des Mundschutzes werden Kontaktinfektionen erhöht und die Nachteile des Maskentragens, z.B. lokale Infektionen, Atembeschwerden oder sozial-/psychologische Benachteiligungen überwiegen deutlich.

    Soweit die Thüringer Ministerien den Beschluss abfällig kommentieren, das Amtsgericht für unzuständig halten und auf den (regierungstreuen) Verwaltungsrechtsweg verweisen, stellt sich die Frage, ob ihnen die Vorschrift des § 1666 BGB sowie die zugehörigen Verfahrensnormen bekannt sind und ob sie die mehrseitige Begründung hierzu in dem Beschluss gelesen haben. Eine sachliche Argumentation sieht jedenfalls anders aus. Interessant ist auch, dass das Amtsgericht zuvor die betroffenen Schulen sowie den Freistaat Thüringen angehört und zahlreiche Hinweise erteilt hat. Weder die Schulen noch ein Ministerium gaben eine Stellungnahme ab.

    Natürlich kann man eine derartige Entscheidung auch kritisieren. Dazu muss man sich aber detailliert damit befassen. Pauschale von der Politik vorgegebene Argumente, wie man sie in größeren Medien findet, vermögen wenig zu überzeugen. Mir ist beispielsweise aufgefallen, dass der Tenor zu Nr. II des Beschlusses, welcher für die Schulen anordnet, den Präsenzunterricht aufrecht zu erhalten, nicht begründet wird. Hier könnte man ansetzen. Allerdings sollte man auch die Rechtsprechung des Thüringer Oberlandesgerichtes kennen, nach der eine Entscheidung nicht wegen fehlender oder unvollständiger Begründung aufzuheben ist, solange sie inhaltlich richtig bleibt (Nachschieben oder Auswechseln von Gründen).

    Im Übrigen setzen sich die Gutachten und das Gericht mit der (Un-) Geeignetheit von PCR- und Schnelltests auseinander. Solange diese ohne ärztliche Validierung der Diagnose erfolgen, sind die Ergebnisse praktisch wertlos.

    Die Entscheidung wirkt nur hinsichtlich der betroffenen beiden Schulen. Ob das Rechtsmittelgericht die Entscheidung aufheben oder halten wird, ist noch offen. In jedem Fall ist die ausführliche Begründung ein wertvolles Dokument, welches zahlreiche Argumente enthält und eventuell für viele weitere Gerichte ein Vorbild sein wird. Beispielsweise das Amtsgericht Weilheim in Oberbayern erließ kürzlich eine ähnliche Entscheidung (Beschluss vom 13.04.2021, Az. 2 F 192/21).

    Der Volltext des Weimarer Beschlusses ist beispielsweise abrufbar unter: https://www.kanzlei-hersbruck.de/app/download/14544026523/Amtsgericht_Weimar_9_F_148_21_EAO_Beschluss+2021_04_08.pdf?t=1618073932

    Florian Gempe, Erfurt
    Rechtsanwalt
    Strafverteidiger

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    OVG Lüneburg erklärt Ausgangssperren für rechtswidrig (Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht – Beschluss vom 06.04.2021, Az.: 13 ME 166/21)

    Ein sensationeller Beschluss des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts (OVG Lüneburg) vom 06.04.2021 (Az.: 13 ME 166/21), welcher die vorausgehende Entscheidung des Verwaltungsgerichts Hannover bestätigt. Hiernach werden die nächtlichen Ausgangssperren in der Region für unzulässig erklärt. Das OVG erachtet diese Maßnahmen zwar als geeignet zur Verfolgung eines legitimen Zwecks, jedoch nicht als erforderlich und angemessen im Sinne der vierstufigen Prüfung der Verhältnismäßigkeit im Verfassungsrecht. Damit verletze die dortige Ausgangssperre zwischen 22.00 und 05.00 Uhr die allgemeine Handlungsfreiheit der Bürger gemäß Art. 2 Abs. 1 des Grundgesetzes.

    Bereits bei der Geeignetheit nimmt das Gericht Einschränkungen vor. Insbesondere nachts sei fraglich, was eine solche Ausgangssperre bringen soll, da ein bloßes Verlassen der eigenen Wohnung ohne Kontakt zu anderen Personen zweifelsfrei kein Infektionsrisiko birgt. Aber auch bei vereinzelten Treffen anderer sei es eher spekulativ, ob durch eine Ausgangssperre das Pandemiegeschehen überhaupt beeinflusst werden kann. Eine Erforderlichkeit im Sinne des „ultima ratio“-Prinzips sei in jedem Fall zu verneinen, da deutlich mildere Mittel denkbar seien. Insbesondere sollte der Staat erst einmal Maßnahmen dafür treffen, dass die bestehenden Kontaktverbote und andere Beschränkungen eingehalten werden.

    Aus meiner Sicht eine Ohrfeige für die Behörden, wenn das Gericht formuliert:

    „Der Beschwerdebegründung der Antragsgegnerin lässt sich auch nicht annäherungsweise entnehmen, in welchem Umfang die von ihr angeführten regelwidrigen nächtlichen Zusammenkünfte im privaten Raum tatsächlich stattfinden. Nicht nachprüfbare Behauptungen reichen zur Rechtfertigung einer derart einschränkenden und weitreichenden Maßnahme wie einer Ausgangssperre nicht aus. Insbesondere ist es nicht zielführend, ein diffuses Infektionsgeschehen ohne Beleg in erster Linie mit fehlender Disziplin der Bevölkerung sowie verbotenen Feiern und Partys im privaten Raum zu erklären. Nach mehr als einem Jahr Dauer des Pandemiegeschehens besteht die begründete Erwartung nach weitergehender wissenschaftlicher Durchdringung der Infektionswege. Der Erlass einschneidender Maßnahmen lediglich auf Verdacht lässt sich in diesem fortgeschrittenen Stadium der Pandemie jedenfalls nicht mehr rechtfertigen.“

    Allerdings lässt das Gericht offen, dass Ausgangssperren im Einzelfall auch erforderlich sein könnten, wenn keine milderen Mittel mehr denkbar wären. Vorliegend sei man davon jedoch weit entfernt.

    Der Volltext der Entscheidung findet sich unter: https://www.rechtsprechung.niedersachsen.de/jportal/portal/page/bsndprod.psml?doc.id=MWRE210001396&st=ent&doctyp=juris-r&showdoccase=1&paramfromHL=true#focuspoin

    Die Pressemitteilung: https://oberverwaltungsgericht.niedersachsen.de/aktuelles/presseinformationen/ausgangsbeschrankung-der-region-hannover-voraussichtlich-rechtswidrig-199221.html

    Die Entscheidung ist allerdings nicht die erste ihrer Art. Bereits andere Gerichte hatten kürzlich Ausgangssperren und einen 15-Kilometer-Radius aufgehoben, ich verweise beispielsweise auf den Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg (05.02.2021, Az.: 1 S 321/21), das Sächsische Oberverwaltungsgericht (03. und 04.03.2021, Az.: 3 B 26/21, 3 B 33/21, 3 B 15/21) und das Verwaltungsgericht Greifswald (29.01.2021, Az.: 4 B 134/21 HGW, 4 B 154/21).

    Es bleibt zu hoffen, dass andere Gerichte diesem Vorbild folgen und auch andernorts Ausgangssperren sowie weitere Maßnahmen aufheben werden.

    Florian Gempe
    Rechtsanwalt
    Strafverteidiger

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    Grenzüberschreitende Arbeitszeiterfassung in den EU-Mitgliedstaaten

    Liebe Leser,

    Der EuGH hat am 14. Mai 2019 in der Rechtssache CCOO eine grundlegende, viel diskutierte Entscheidung über die Erfassung der Arbeitszeit getroffen. Danach müssen die Mitgliedstaaten der Europäischen Union von den Arbeitgebern verlangen, ein System einzurichten, mit dem die Dauer der täglichen Arbeitszeit gemessen werden kann. Es ist unbedingt erforderlich, dass die Arbeitgeber ein objektives, zuverlässiges und zugängliches System zur Messung der Arbeitszeit einrichten. Die Mitgliedstaaten haben dabei einen gewissen Ermessensspielraum vom EuGH zugesprochen bekommen.

    Der Unterzeichner behandelt in diesem Aufsatz insbesondere die Problematik der grenzüberschreitenden Tätigkeit.

    Den vollständigen Artikel können Sie nachlesen in der Zeitschrift für Europäisches Sozial- und Arbeitsrecht ZESAR 03.21, S. 119 – 126. Viel Spaß beim Lesen.

    Ihr

    Rudolf Hahn

    Rechtsanwalt

    Fachanwalt für Arbeitsrecht