• Strafrecht

    Volksverhetzung in Chatgruppen der Polizei? (LG Frankfurt a.M.)

    Das Landgericht Frankfurt am Main hat sich im Beschluss vom 13.02.2023 (Az.: 5/6 KLs 6110 Js 249194/18 – 1/22) mit der Strafbarkeit inkriminierter Äußerungen in Chatgruppen (i.d.R. WhatsApp oder Telegram) auseinandergesetzt (veröffentlicht in StraFo, Heft 4, April 2024, S. 150).

    Im Fokus der Betrachtung stehen Inhalte, die in der Regel die Tatbestände des Verwendens von Kennzeichen verfassungswidriger und terroristischer Organisationen (§ 86a StGB) und der Volksverhetzung (§ 130 StGB) erfüllen. Dies kann bekanntermaßen sehr schnell der Fall sein, sobald man sich über bestimmte Minderheiten kritisch äußert, kontroverse politische Ansichten vertritt oder sich mit historischen Themen aus einem anderen Blickwinkel befasst. Natürlich gibt es auch viel Schund und Schmutz, der im Internet und in entsprechenden Chatgruppen verbreitet wird, aber die Strafwürdigkeit solchen Verhaltens darf angezweifelt werden. Der ultima-ratio-Grundsatz des Strafrechts ist heute längst aus dem Blick geraten.

    Vorliegend ging es in der Entscheidung des LG Frankfurt a.M. um eine Chatgruppe von Polizeibeamten, die (schwankend) maximal 10 Mitglieder hatte. Darin wurden diverse Nachrichten ausgetauscht, deren Niveau teilweise unterirdisch gewesen sein soll und die – was hier als wahr unterstellt werden soll – in großem Umfang strafbare Inhalte zeitigten. Das betrifft Textnachrichten, Bilder, Videos und sog. Memes. All dies wurde fröhlich unter den Mitgliedern der Chatgruppe ausgetauscht, vermutlich vorrangig zur Belustigung oder als überspitzte Gesellschaftskritik. Diesen Personen soll die Strafbarkeit der Inhalte bekannt gewesen sein, daher habe man nur bestimmte Personen, die zum vertrauten Kreis gehörten (Polizeibeamte) und sich einem bestimmten Initiationsritual unterzogen, aufgenommen. Kurz gesagt: Die Leute kannten einander.

    Die Staatsanwaltschaft behauptete schlichtweg, die Nachrichten seien zur weiteren Verbreitung bestimmt gewesen, zumindest hätten die Mitglieder dies billigend in Kauf genommen.

    Das Landgericht hat diese pauschale Unterstellung der Staatsanwaltschaft kritisiert und die Eröffnung des Hauptverfahrens abgelehnt. Dies gleicht einem Freispruch. Das Landgericht geht intensiv auf das Merkmal des Verbreitens ein, denn beide Vorschriften (§ 86a und § 130 StGB) setzen eine öffentliche Verwendung oder ein Verbreiten der strafbaren Inhalte voraus. Die Meinungsfreiheit aus Art. 5 Abs. 1 GG, mit der sich das Landgericht ausgiebig auseinandersetzt, sei der Grund, warum der Gesetzgeber nicht bestimmte Inhalte oder Gedankenäußerungen an sich unter Strafe stellte, sondern lediglich bestimmte Formen der Äußerung, hier das Verbreiten. Dementsprechend werden die Voraussetzungen dessen juristisch korrekt geprüft. Die darin enthaltenen Auslegungen sind nicht neu, sondern bereits seit Jahrzehnten in Rechtsprechung und Literatur anerkannt. Umso erstaunlicher ist es, dass Presse und Staatsanwaltschaften immer wieder das Gegenteil behaupten und mit schlichten Behauptungen einen Verbreitungsvorsatz konstruieren wollen, um zu einer Strafbarkeit unerwünschten Verhaltens zu gelangen. Das Landgericht Frankfurt a.M. geht da nicht mit, sondern verneint zutreffend die Strafbarkeit.

    Es kann eben nicht ohne weitere Anhaltspunkte davon ausgegangen werden, dass die bloße Einstellung eines inkriminierten Inhalts in einer Chatgruppe impliziere, dass es dem Teilnehmer gleichgültig sei, ob ein anderer den Inhalt teilt. Selbst wenn, würde dies nicht genügen, um die Meinungsfreiheit derart einzuschränken. Die bloß abstrakte Möglichkeit der Weitergabe – die immer vorliegt – genügt gerade nicht, um eine konkrete Verbreitung und einen darauf gerichteten Vorsatz zu begründen.

    An einer Stelle verweist das Gericht auf die Kunstfreiheit (Art. 5 Abs. 3 GG), die auch in den Blick genommen werden müsse.

    Im Ergebnis bleibt es dabei, dass der Austausch entsprechender Nachrichten in Chatgruppen nicht strafbar ist, solange die Mitglieder einander kennen und nicht mit einer Weitergabe an Außenstehende rechnen. Würde jemand seinen Inhalt mit dem Zusatz versehen „bitte teilen“, wäre dies etwas anderes. Auch größere Gruppen, in denen die Mitgliederzahl unübersichtlich wird, man die anderen Teilnehmer nicht persönlich kennt oder fremde Leute gar beliebig beitreten können, würden dagegen als Öffentlichkeit gelten, sodass man sich bei entsprechenden Beiträgen durchaus strafbar machen würde. Hier war dies nicht der Fall.

    Erstaunlich ist allerdings, dass die Chatinhalte dieser Gruppe „Itiotentreff“ von der Gruppe um Jan Böhmermann (ZDF Magazin Royale) zu großen Teilen veröffentlicht werden. Dies scheint mir eher eine strafbare Veröffentlichung und Verbreitung zu sein, aber bei derartigen Autoren sieht die Staatsanwaltschaft in der Regel „Satire“ und lässt im Rahmen der Kunstfreiheit erstaunliche Dinge als straflos geschehen (vgl. die kürzlich ergangene Entscheidung der Staatsanwaltschaft Mainz, die ein Ermittlungsverfahren gegen Jan Böhmermann nicht einleiten will, obwohl dieser öffentlich zu Körperverletzungs-/Tötungsdelikten aufrief und forderte „Nazis keulen“ – es sei Satire). Aus diesem Grund halte ich es für spannend, dass das Landgericht Frankfurt a.M. auch im Zusammenhang der Chatgruppen die Kunstfreiheit ins Spiel bringt. Können nicht auch derartige Darstellungen / Bilder / Memes „Satire“ sein? Die Entscheidungen zum Thema Böhmermann in den letzten Jahren haben gezeigt, dass die Niedertracht, Geschmacklosigkeit und Menschenverachtung kein Maßstab hierfür sein können, sondern „Kunst“ lediglich im Auge des Betrachters liegt.

    Der Beschluss des Landgerichts ist noch nicht rechtskräftig, die Sache liegt offenbar noch in der Beschwerdeinstanz beim OLG Frankfurt a.M. (LTO vom 19.03.2024). Zwar kann sich das OLG darauf stützen, dass zur endgültigen Beurteilung erst eine Hauptverhandlung durchgeführt werden muss, im Ergebnis wird dies aber an den Voraussetzungen der Strafbarkeit nichts ändern, da das Landgericht lediglich die ständige Rechtsprechung zu den vorstehenden Paragrafen angewandt hat. Von daher ist mit einer Verurteilung hier nicht zu rechnen,

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    Florian Gempe
    Rechtsanwalt
    Fachanwalt für Strafrecht

  • Strafrecht

    BVerfG: Wohnungsdurchsuchung zur Ermittlung der Einkommensverhältnisse unzulässig

    Verteidiger kennen das leidige Problem: Der Beschuldigte möchte in der Hauptverhandlung keine Angaben zu seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen machen und das Gericht droht ihm mit einer Hausdurchsuchung, um diese Umstände zu ermitteln, woraufhin dann meist doch eine Einlassung diesbezüglich anzuraten ist.

    Das Bundesverfassungsgericht hat sich nun in einer ähnlichen Konstellation mit der Verhältnismäßigkeit einer solchen Wohnungsdurchsuchung befasst und dies für verfassungswidrig erklärt (BVerfG, Beschluss vom 15.11.2023, Az.: 1 BvR 52/23).

    Der Beschuldigte ist beamteter Lehrer und ihm wurde eine Beleidigung vorgeworfen. Sein Verteidiger gab im Ermittlungsverfahren eine Erklärung ab, die sich inhaltlich gegen die Tatvorwürfe richtete, aber zum Einkommen des Beschuldigten nur beiläufig mitteilte, er sei „Beamter im aktiven Dienst“.

    Die Staatsanwaltschaft hielt es nicht für nötig, nach den Details zu fragen, sondern beantragte beim Amtsgericht sogleich eine Wohnungsdurchsuchung zur Ermittlung der Einkommensverhältnisse für eine in Betracht kommende Geldstrafe. Die Ermittlungsrichterin unterzeichnete diesen Blödsinn und so standen unvermittelt mehrere Polizeibeamten in der Wohnung des Lehrers, die alles auf den Kopf stellen wollten. Dies konnte nur dadurch abgewendet werden, indem dieser entsprechende Unterlagen selbst heraussuchte und aushändigte.

    Die Beschwerde zum Landgericht blieb erfolglos. Eine Verfassungsbeschwerde war jedoch erstaunlicherweise erfolgreich. Während das Bundesverfassungsgericht sich bei vielen wichtigen Themen seiner Verantwortung entzieht und entsprechende professionelle Eingaben gar nicht erst zur Entscheidung annimmt, kam es hier zu einer Aufhebung der genannten gerichtlichen Entscheidungen. Zutreffend wurde festgestellt, dass das durchgeführte Procedere eine schwerwiegende Verletzung des Grundrechts auf Unverletzlichkeit der Wohnung (Art. 13 Abs. 1 GG) darstellt.

    Zwar sei es nicht generell ausgeschlossen, eine Durchsuchung nach § 102 StPO auch zur Ermittlung der etwaigen Tagessatzhöhe für eine Geldstrafe vorzunehmen, allerdings ist jedenfalls die Verhältnismäßigkeit zu beachten. Vorliegend kamen zunächst andere Mittel in Betracht:

    – schlichte Nachfrage beim Beschuldigten oder Verteidiger
    – Anfrage bei der Besoldungsstelle des Beamten
    – Vornahme einer richterlichen Schätzung der Einkommensverhältnisse
    – Anfrage bei der BaFin
    – Einholung von Bankauskünften beim Kreditinstitut des Beschuldigten

    Da all dies unterblieben ist, konnte die Staatsanwaltschaft nicht einfach den schwerwiegenden Eingriff einer Wohnungsdurchsuchung wählen. Dies gilt vorliegend insbesondere im Hinblick auf die geringfügige Straftat (Beleidigung), die dem Beschuldigten vorgeworfen wurde.

    Für die Praxis ist die Entscheidung von großer Bedeutung, da oben dargestellte Drohungen von Gerichten keine Seltenheit sind. Diese können nun hierauf verwiesen werden, denn in aller Regel stehen andere Ermittlungsmöglichkeiten zur Verfügung, die einen weniger invasiven Eingriff als eine Durchsuchung darstellen. Allerdings ist dabei auch immer auf die Schwere der Tatvorwürfe zu achten, da das BVerfG derartige Durchsuchungen nicht völlig ausschließen wollte.

    Florian Gempe
    Rechtsanwalt
    Fachanwalt für Strafrecht

  • Aktuell

    Bundesarbeitsgericht: Corona ist auch ohne Symptome eine Krankheit nach EFZG, auf Impfung kommt es nicht an

    Dem Bundesarbeitsgericht lag folgender Fall zur Entscheidung vor:

    Ein Produktionsmitarbeiter in der kunststoffverarbeitenden Industrie infizierte sich im Dezember 2021 mit SARS-CoV-2 und litt zunächst wenige Tage an Symptomen wie Husten und Schnupfen, die dann abgeklungen sind. Für 5 Tage wurde er vom Arzt krankgeschrieben. 2 Wochen dauerte jedoch seine behördlich angeordnete Quarantäne, weshalb er nicht an seinem Arbeitsplatz erscheinen konnte. Der Arbeitgeber weigerte sich zur Fortzahlung des Arbeitslohnes über die 5 Tage hinaus.

    Das Bundesarbeitsgericht bestätigte, dass die Infektion mit SARS-CoV-2 auch ohne Vorliegen von Symptomen ein regelwidriger Körperzustand ist, der eine Krankheit im Sinne von § 3 des Entgeltfortzahlungsgesetzes (EFZG) darstellt. Diese Erkrankung ist kausal für die Quarantäneanordnung und erfüllt damit die Voraussetzungen für den Entgeltfortzahlungsanspruch. Der Arbeitgeber muss zahlen.

    Das Spannende an der Entscheidung: Obwohl die Vorinstanz noch zugunsten des Arbeitgebers unterstellte, dass die Verweigerung der Corona-Impfung unvernünftig sei und ein Verschulden des Produktionsmitarbeiters an seiner Infektion begründen könne (dies wurde vom Bundesarbeitsgericht – jedenfalls nach bislang nur vorliegender Pressemitteilung – offenbar nicht überprüft), aber das BAG bestätigte die Einschätzung des Landesarbeitsgerichts Hamm, dass jedenfalls nicht nachweisbar ist, dass das Unterlassen der Impfung die Infektion begünstigt hätte. Umgekehrt formuliert: Laut Zahlen des Robert-Koch-Instituts hätte eine Impfung auch keinen wirksamen Schutz vor einer Infektion gebracht. Daher kann dem Arbeitnehmer kein Verschulden an seiner Corona-Infektion angelastet werden, egal ob geimpft oder ungeimpft, so das BAG.

    Darüber hinaus stellte das BAG fest, dass die fehlende Vorlage einer ärztlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung durch den Arbeitnehmer im vorliegenden Fall unschädlich war, da die Vorlage der behördlichen Quarantäneanordnung einen anderen geeigneten Nachweis nach §§ 5, 7 EFZG darstellt.

    Die Entscheidung ist zu begrüßen, da sie einen Schritt weg von der Diskriminierung von „Ungeimpften“ darstellt. Es wäre jedoch erfreulich gewesen, wenn das BAG zugleich mit dem Mythos des unvernünftigen Verhaltens wegen der sog. Verweigerung einer Corona-Impfung aufgeräumt hätte. Wenn man sich die Risiken und Nebenwirkungen sowie die Fallzahlen der Impfgeschädigten anschaut, war es alles andere als unvernünftig, sich gegen diese Gentherapie zu entscheiden.

    Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 20.03.2024, Az.: 5 AZR 234/23

  • Strafrecht

    Gefährliche Körperverletzung durch Zahnarzt?

    Eine bereits seit langem in Rechtsprechung und Literatur diskutierte Frage ist die, ob medizinisches Gerät, welches durch qualifiziertes Fachpersonal verwendet wird, ein gefährliches Werkzeug im Sinne des § 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB darstellt, wenn die Behandlung von der Ausführung her regelkonform erfolgt. Dann würde aus der (einfachen) Körperverletzung eine gefährliche Körperverletzung, welche grundsätzlich eine Mindestfreiheitsstrafe von 6 Monaten vorsieht.

    Das OLG Karlsruhe hatte über einen Fall zu entscheiden (Beschluss vom 16.03.2022, Az.: 1 Ws 47/22, StraFo 6/2023, S. 242 ff.), in dem der betreffende Zahnarzt in 33 Fällen Zähne der Patienten gezogen hatte. Das Problem dabei: Es hätte alternative Behandlungsmethoden zur Erhaltung der Zähne gegeben, die der Zahnarzt verschwieg, um anschließend Zahnersatz einsetzen und daran verdienen zu können. Die Einwilligung der Patienten in die Eingriffe war mithin mangels ordnungsgemäßer Aufklärung nicht wirksam.

    Das OLG Karlsruhe bewertete die Vorgänge als gefährliche Körperverletzung und argumentierte damit nahe am Gesetz und der anerkannten Definition eines gefährlichen Werkzeugs. Ein solches liegt nämlich vor, wenn das verwendete Tatmittel in der konkreten Art der Verwendung dazu geeignet ist, dem Opfer erhebliche Verletzungen beizubringen. Zwar werden Schmerzen während der Behandlung regelmäßig durch Anästhesie ausgeschaltet, jedoch treten solche oftmals nach Abklingen der Betäubung wieder auf. Die Trennung der Verbindung zwischen Zahn und Nerv führe zum unwiederbringlichen Verlust eines Teils des Gebisses. Es entstehe für einige Tage eine offene Wunde im Mundraum, die zu Blutungen und Infektionen führen könne. Nicht unerhebliche Schmerzen und Probleme bei der Nahrungsaufnahme seien häufig der Fall. Dies passiere insbesondere bei der Entfernung mehrerer Zähne bei einem Patienten, was vorliegend geschehen sei.

    Stimmen aus der Literatur argumentieren dagegen und sehen nur eine einfache Körperverletzung (Anmerkung Bergschneider in: StraFo 6/2023, S. 244). Sie argumentieren mit der Systematik des Gesetzes, die sich trotz Änderung des § 223a StGB (gefährliches Werkzeug als Unterfall einer Waffe) in § 224 StGB (gefährliches Werkzeug als Oberbegriff) im Jahre 1998 nicht geändert hätte. Zudem setze ein gefährliches Werkzeuge (zusätzlich zur o.g. Definition) noch einen Einsatz des Tatmittels zu Angriffs- oder Verteidigungszwecken voraus, der vorliegend fehle. Letztlich sei darauf abzustellen, ob es sich insgesamt um eine gefährliche Situation handele. Dies sei bei einem medizinischen Gerät (bspw. Skalpell oder Zange) in der Hand eines Arztes oder Zahnarztes nicht der Fall, da dieser fachgerecht damit umgehen könne und durch präzisen Einsatz Gefahren vermeiden könne. Diese Auffassung übersieht m.E., dass zum ordnungsgemäßen Eingriff de lege artis auch gehört, dass der Patient vollständig über die Behandlungsmöglichkeiten aufgeklärt wird und in umfassender Kenntnis wirksam einwilligt. Dies sind nicht nur (straf-) rechtliche, sondern auch medizinische Kriterien.

    Letztlich halte ich daher die Auslegung des OLG Karlsruhe für überzeugend.

    Zu der aus meiner Sicht spannenden Frage, ob das Verhalten des Zahnarztes im vorliegenden Fall auch einen Betrug zu Lasten der Patienten oder der Krankenkassen darstellt, äußert sich der (veröffentlichte) Beschluss leider nicht.

    Florian Gempe
    Rechtsanwalt
    Fachanwalt für Strafrecht

  • Erbrecht

    Vater mögest Du „verrecken“ – wie entziehe ich dem Kind den Pflichtteil? 

    (OLG Saarbrücken, 5 U 61/15)

    In der täglichen Beratungspraxis äußern die Mandanten oft den Wunsch, dass eines ihrer Kinder nichts erben und insbesondere auch nicht den Pflichtteil erhalten soll. Dem ersten Wunsch, wonach man das Kind enterben will, ist aus anwaltlicher Sicht leicht zu entsprechen: Hierzu müssen die Eltern lediglich ein Testament aufsetzen, in welchem sie anordnen, wer anstelle des Kindes erbt oder in welchem sie festlegen, dem betroffenen Kind nichts zukommen zu lassen.

    Schwieriger ist es jedoch, den oft geäußerten Wunsch des Mandanten einer Lösung zuzuführen, wonach das Kind am Nachlass der Eltern überhaupt nicht partizipieren soll, das Kind also auch nicht den sog. Pflichtteil beanspruchen könnte.

    Der Pflichtteil ist ein Minimum an Geldvermögen, welches ein Kind nach dem Tod seiner Eltern aus dem Nachlasswert beanspruchen kann.

    § 2333 Abs. 1 BGB regelt die Anforderungen, welche an den Entzug des Pflichtteils seitens der Eltern gegenüber eines der Kinder zu stellen sind. Neben den wenig relevanten Fallgruppen, wie etwa das Verbüßen einer längeren Gefängnisstrafe, einem versuchten Tötungsdelikt gegen die Eltern oder vernachlässigter Unterhaltspflichten, kommt es regelmäßig darauf an, ob sich das Kind gegenüber seinen Eltern eines „schweren vorsätzlichen Vergehens schuldig“ gemacht hat.

    Die oft anzutreffende Konstellation der Entfremdung zwischen Eltern und Kind reicht für den Entzug des Pflichtteils also nicht aus – gemeint ist hier, dass Eltern und Kind sich auseinandergelebt haben und schon über Jahre oder gar Jahnzehnte keinerlei Kontakt mehr pflegen.

    Vielmehr muss das Kind gegenüber einem Elternteil eine Verfehlung begangen haben, die einerseits schwer wiegt und andererseits die den Eltern gegenüber geschuldete familiäre Achtung schwer verletzt. Die Rechtsprechung stellt hier auf eine empfindliche Störung des Eltern-Kind-Verhältnisses ab.

    Den hohen Anforderungen an den Entzug des Pflichtteils tat eine Tochter gegenüber ihrem Vater genüge, welche in einem von dem Saarländischen Oberlandesgericht zu entscheidenden Rechtsstreit ihrem Vater mehrfach ins Gesicht schlug, ihm im Anschluss demonstrativ den Mittelfinger ins Gesicht hielt, ihn währenddessen als „Dreckschwein“, „Arschloch“ und „Idiot“ betitelte und ihm abschließend den Tod mit den Worten er möge „verrecken“ wünschte (OLG Saarbrücken – Urteil vom 05.10.2016 – 5 U 61/15). Hier sahen die Richter die hohen Anforderungen des Pflichtteilsentzugs als gegeben an und bejahten die Rechtmäßigkeit des Entzugs des Pflichtteils durch den Vater gegenüber der Tochter.

    Grenzfälle sieht die Rechtsprechung dort, wo das Kind gegenüber den Eltern einmalig gewalttätig und beleidigend in Erscheinung trat aber der Anlass hierfür in einem Affekt des Kindes lag. Exemplarisch sei hierfür die Eskalation auf einer Familienfeier genannt, in welchem ein Elternteil und das Kind – womöglich enthemmt durch Alkohol – verbal und physisch in eine Auseinandersetzung geraten. Lag der Anlass hierfür beispielsweise in Sticheleien des Vaters, welcher mit der Lebensführung des Kindes unzufrieden ist und kommt es dann durch das Kind zu einem verbal lautstark und zusätzlich vielleicht auch mit Handgreiflichkeiten geführten Streit, so spricht viel dafür, dass die hohe Messlatte der Pflichtteilsentziehung noch nicht erreicht ist, weil es sich um einen einmaligen Vorfall handelte.

    In jedem Falle müssen der Sachverhalt und die Hintergründe, welche den Elternteil veranlassen, dem Kind den Pflichtteil zu entziehen, im Testament nachvollziehbar aufgezeigt werden.

    Laurens Häfner
    Rechtsanwalt