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OVG Lüneburg erklärt Ausgangssperren für rechtswidrig (Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht – Beschluss vom 06.04.2021, Az.: 13 ME 166/21)

Ein sensationeller Beschluss des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts (OVG Lüneburg) vom 06.04.2021 (Az.: 13 ME 166/21), welcher die vorausgehende Entscheidung des Verwaltungsgerichts Hannover bestätigt. Hiernach werden die nächtlichen Ausgangssperren in der Region für unzulässig erklärt. Das OVG erachtet diese Maßnahmen zwar als geeignet zur Verfolgung eines legitimen Zwecks, jedoch nicht als erforderlich und angemessen im Sinne der vierstufigen Prüfung der Verhältnismäßigkeit im Verfassungsrecht. Damit verletze die dortige Ausgangssperre zwischen 22.00 und 05.00 Uhr die allgemeine Handlungsfreiheit der Bürger gemäß Art. 2 Abs. 1 des Grundgesetzes.

Bereits bei der Geeignetheit nimmt das Gericht Einschränkungen vor. Insbesondere nachts sei fraglich, was eine solche Ausgangssperre bringen soll, da ein bloßes Verlassen der eigenen Wohnung ohne Kontakt zu anderen Personen zweifelsfrei kein Infektionsrisiko birgt. Aber auch bei vereinzelten Treffen anderer sei es eher spekulativ, ob durch eine Ausgangssperre das Pandemiegeschehen überhaupt beeinflusst werden kann. Eine Erforderlichkeit im Sinne des „ultima ratio“-Prinzips sei in jedem Fall zu verneinen, da deutlich mildere Mittel denkbar seien. Insbesondere sollte der Staat erst einmal Maßnahmen dafür treffen, dass die bestehenden Kontaktverbote und andere Beschränkungen eingehalten werden.

Aus meiner Sicht eine Ohrfeige für die Behörden, wenn das Gericht formuliert:

„Der Beschwerdebegründung der Antragsgegnerin lässt sich auch nicht annäherungsweise entnehmen, in welchem Umfang die von ihr angeführten regelwidrigen nächtlichen Zusammenkünfte im privaten Raum tatsächlich stattfinden. Nicht nachprüfbare Behauptungen reichen zur Rechtfertigung einer derart einschränkenden und weitreichenden Maßnahme wie einer Ausgangssperre nicht aus. Insbesondere ist es nicht zielführend, ein diffuses Infektionsgeschehen ohne Beleg in erster Linie mit fehlender Disziplin der Bevölkerung sowie verbotenen Feiern und Partys im privaten Raum zu erklären. Nach mehr als einem Jahr Dauer des Pandemiegeschehens besteht die begründete Erwartung nach weitergehender wissenschaftlicher Durchdringung der Infektionswege. Der Erlass einschneidender Maßnahmen lediglich auf Verdacht lässt sich in diesem fortgeschrittenen Stadium der Pandemie jedenfalls nicht mehr rechtfertigen.“

Allerdings lässt das Gericht offen, dass Ausgangssperren im Einzelfall auch erforderlich sein könnten, wenn keine milderen Mittel mehr denkbar wären. Vorliegend sei man davon jedoch weit entfernt.

Der Volltext der Entscheidung findet sich unter: https://www.rechtsprechung.niedersachsen.de/jportal/portal/page/bsndprod.psml?doc.id=MWRE210001396&st=ent&doctyp=juris-r&showdoccase=1&paramfromHL=true#focuspoin

Die Pressemitteilung: https://oberverwaltungsgericht.niedersachsen.de/aktuelles/presseinformationen/ausgangsbeschrankung-der-region-hannover-voraussichtlich-rechtswidrig-199221.html

Die Entscheidung ist allerdings nicht die erste ihrer Art. Bereits andere Gerichte hatten kürzlich Ausgangssperren und einen 15-Kilometer-Radius aufgehoben, ich verweise beispielsweise auf den Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg (05.02.2021, Az.: 1 S 321/21), das Sächsische Oberverwaltungsgericht (03. und 04.03.2021, Az.: 3 B 26/21, 3 B 33/21, 3 B 15/21) und das Verwaltungsgericht Greifswald (29.01.2021, Az.: 4 B 134/21 HGW, 4 B 154/21).

Es bleibt zu hoffen, dass andere Gerichte diesem Vorbild folgen und auch andernorts Ausgangssperren sowie weitere Maßnahmen aufheben werden.

Florian Gempe
Rechtsanwalt
Strafverteidiger